Leopoldina und Union
Entstehung einer Blastozyste

Das digitale Dossier zur Stellungnahme

Fortpflanzungs­medizin in Deutschland –
für eine zeitgemäße Gesetzgebung

Worum geht’s?

1982 wurde in Erlangen zum ersten Mal in Deutschland ein Mensch nach In-vitro-Fertilisation geboren. Das Medienecho war riesig, und eine intensive gesellschaftliche Debatte begann.

Zehnköpfiges Ärzteteam bei Pressekonferenz
Das zehnköpfige Ärzteteam aus Erlangen, das an der Geburt des ersten in Deutschland nach IVF geborenen Kindes beteiligt war, bei einer Pressekonferenz am 20. April 1982. © picture-alliance / dpa / Karl Staedele

Wie sollte man mit diesen neuen Möglichkeiten der Medizin umgehen?

Nach einer langen und kontroversen Diskussion einigte man sich 1990 auf einen Kompromiss: das Embryonenschutzgesetz. Es ist ein reines Strafgesetz – das heißt, es arbeitet ausschließlich mit Verboten – und gilt bis heute nahezu unverändert.

Seither ist allerdings viel passiert – in der Gesellschaft wie auch in der Fortpflanzungsmedizin. Die medizinischen Techniken haben sich weiterentwickelt, und auch die Auffassungen von Familie und Partnerschaft haben sich in der Gesellschaft sehr verändert.

Auch dadurch nimmt die Zahl der IVF-Behandlungen zu: Heute werden 3% der Kinder in Deutschland mithilfe von IVF-Behandlungen geboren. Das sind mehr als 20.000 Kinder pro Jahr.

Geborene Kinder nach IVF, 1997 – 2016

5.000 2000 2005 2010 2015 10.000 15.000 20.000
Quelle: DIR Report 2017, die Zahlen umfassen alle Kinder, die nach In-vitro-Fertilisation geboren wurden (auch nach Kryokonservierung und inklusive ICSI).
Was ist eigentlich In-vitro-Fertilisation?

Bei der In-vitro-Fertilisation werden die Eizellen der Frau und der Samen des Mannes im Labor zusammengebracht. Die so entstandenen Embryonen werden einige Tage beobachtet, ob sie sich gut entwickeln. Dann wird einer oder mehrere der Embryonen in die Gebärmutter der Frau übertragen. Nisten sich die Embryonen in der Gebärmutterschleimhaut ein, kommt es zu einer Schwangerschaft.

Warum nehmen immer mehr Menschen die Hilfe der Fortpflanzungsmedizin in Anspruch?

Eine Vielzahl von Entwicklungen führt dazu, dass die Menschen in Deutschland heute deutlich später Kinder bekommen. In Deutschland liegt das Erstgebärenden-Alter inzwischen bei durchschnittlich 29,8 Jahren (2017).
Zu den Gründen hierfür gehören mehr Bildungs- und Arbeitschancen für Frauen und die zum Teil immer noch schlechte Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Zum anderen haben die Verfügbarkeit von wirksamen Verhütungsmitteln und ein kultureller Wandel dazu beigetragen, dass Frauen und Männer tendenziell später Kinder bekommen. Ein zunehmender Anteil von Frauen versucht erst ab einem Alter von 35 Jahren schwanger zu werden, in dem die Fruchtbarkeit bereits etwas nachlässt.
Konstellationen, in denen die sexuelle Orientierung oder Lebensweise der Person es nicht ermöglicht, mit einem Partner oder einer Partnerin ein Kind zu zeugen (wie bei homosexuellen Paaren) sind heute gesellschaftlich akzeptiert. Solche Personen wünschen sich aber auch oft, Kinder zu bekommen, und benötigen die Hilfe der Fortpflanzungsmedizin.

Die gängigsten Verfahren: Insemination, IVF, ICSI
Illustration Insemination
Insemination

Als Insemination wird jede Übertragung des männlichen Samens in den Genitaltrakt der Frau bezeichnet, die nicht über den Weg des sexuellen Verkehrs erfolgt. Ziel ist die Befruchtung einer Eizelle, die im Körper der Frau heranreift.

Illustration IVF
IVF

Die Eizellen werden mit den Samenzellen zusammengebracht. Wie bei der natürlichen Befruchtung sucht sich eine Samenzelle den Weg in die Eizelle.

Illustration ICSI
ICSI

Mit Hilfe einer Mikronadel wird ein ausgewähltes Spermium in eine Eizelle injiziert.

Mehr zu diesem Thema finden Sie in den Kapiteln 2.2 Der Aufschub der Geburten in Deutschland und 2.3 Ursachen von Kinderlosigkeit in der Stellungnahme.
Labortechniker prüft das Ergebnis einer In-vitro-Fertilisation

Was ist das Problem?

Labortechniker prüft das Ergebnis einer In-vitro-Fertilisation

Was ist das Problem?

Das Embryonenschutzgesetz erfasst die neuen sozialen und medizinischen Entwicklungen nicht. Daher ist es unstimmig und lückenhaft. Es erzeugt Gerechtigkeitsprobleme und Rechtsunsicherheit.

Beispiel 1: Die Eizellspende

Ein Paar, bei dem der Mann in Folge einer Krebsbehandlung unfruchtbar ist, kann sich seinen Kinderwunsch durch eine Samenspende erfüllen. Eine Eizellspende könnte einer Frau in einer ähnlichen Situation helfen. Die Eizellspende ist jedoch in Deutschland verboten.

Wo ist Eizellspende legal?

Erlaubt in: Belgien, Bulgarien, Dänemark, Estland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Irland, Italien, Kroatien, Lettland, Malta, Niederlande, Norwegen, Österreich, Polen, Portugal, Rumänien, Schweden, Slowakei, Slowenien, Spanien, Tschechien, Ungarn, Zypern.

Verboten in: Deutschland, Litauen, Luxemburg, Schweiz.

Karte über Länder, in denen Eizellspenden legal oder illegal sind. Karte über Länder, in denen Eizellspenden legal oder illegal sind.

In Deutschland war die Eizellspende 1990 verboten worden, weil man befürchtete, dass eine gespaltene Mutterschaft für die so entstandenen Kinder große Identitätsprobleme mit sich bringen würde. Allerdings weiß man heute aus Studien aus dem Ausland, dass diese Befürchtung unzutreffend ist. Ein weiterer Grund war, dass die Verfahren für die Gewinnung von Eizellen damals eine große Belastung für die spendende Frau darstellten. Heute sind diese Verfahren jedoch deutlich schonender.

Die Medizinethikerin Claudia Wiesemann und die Familientherapeutin Petra Thorn begründen, warum es an der Zeit ist, die Eizellspende in Deutschland zu legalisieren.

Beispiel 2: Risiken durch Mehrlingsschwangerschaften

21% aller Schwangerschaften nach IVF in Deutschland sind Mehrlingsschwangerschaften. Bei natürlichen Schwangerschaften sind es nur 1%. Mehrlingsschwangerschaften bringen gesundheitliche Risiken für Frau und Kind mit sich, insbesondere durch das erhöhte Risiko einer Frühgeburt.

Um den Anteil der Mehrlingsschwangerschaften zu reduzieren, wird in vielen Ländern der sogenannte elective Single Embryo Transfer (eSET) durchgeführt. Schweden zum Beispiel hat nur 4% Mehrlingsschwangerschaften – und das bei nahezu gleicher Geburtenrate.

Mehrlingsschwangerschaften Ländervergleich

Großbritannien* Belgien* Schweden* Deutschland
81% 54% 43% 20% Transfer mit mehrals einem Embryo
Großbritannien* Belgien* Schweden* Deutschland
21% 14% 10% 4% Zwillingsratepro Geburt
Großbritannien* Belgien* Schweden* Deutschland
21% 28% 19% 24% Geburtenratepro Eizellpunktion
* Länder mit legalem eSET; Zahlen nach: De Geyter et al. (2018)

Beim eSET wird im Labor bewusst eine größere Anzahl von Eizellen befruchtet. Die so erzeugten Embryonen werden über einige Tage beobachtet. Dann wird nur derjenige ausgewählt, der die besten Entwicklungschancen aufweist und der Frau übertragen.

Wie funktioniert der eSET?

Befruchtung

Alle der Frau nach Hormonstimulation entnommenen Eizellen werden befruchtet. Die Zellteilung beginnt.

Illustration Befruchtung
Kultivierung

Die Kultivierung erstreckt sich über eine Dauer von 2-5 Tagen. Die frühen Embryonen entwickeln sich unterschiedlich.

Illustration Kultivierung
Auswahl

Die Entwicklung der Embryonen wird beobachtet. Der sich am besten entwickelnde Embryo wird ausgewählt.

Illustration Auswahl
Übertragung

Nur dieser Embryo wird übertragen.

Illustration Übertragung der Eizelle
Konservierung

Die anderen werden für eine mögliche spätere Verwendung aufbewahrt.

Illustration Konerservierung einer Eizelle

In Deutschland ist der eSET in dieser Form aufgrund der Regelungen des Embryonenschutzgesetzes nicht möglich. Es verbietet, bewusst mehr Embryonen zu erzeugen, als der Frau in einem Zyklus übertragen werden sollen.

Der Jurist Jochen Taupitz zur Frage, warum der eSET in Deutschland erlaubt werden sollte.

Beispiel 3: Überzählige Embryonen

In Deutschland fehlen auch Regelungen zum Umgang mit überzähligen Embryonen, die bei fortpflanzungsmedizinischen Behandlungen entstehen können. Zwar ist eine Embryospende bzw. –adoption im Prinzip nicht verboten, wie diese in der Praxis ausgestaltet werden soll, ist aber völlig unklar. So ist zum Beispiel überhaupt nicht geregelt, nach welchen Kriterien Wunscheltern eine Embryospende erhalten dürfen.

Die Medizinethikerin Claudia Wiesemann zur Frage, wie mit sogenannten überzähligen Embryonen umgegangen werden sollte.

Embryospende/Embryoadoption

Embryonen können für eine Spende in Betracht kommen, wenn sie für die fortpflanzungsmedizinische Behandlung des Paares, für das sie erzeugt wurden, endgültig nicht mehr verwendet werden. Man spricht insoweit von sogenannten überzähligen Embryonen. Sie können z. B. entstehen, wenn die Familienplanung abgeschlossen ist oder der Kinderwunsch aus anderen Gründen nicht mehr fortbesteht.
Anstatt solche Embryonen zu verwerfen, also absterben zu lassen, könnten sie von den Paaren einem anderen Kinderwunschpaar für den Transfer überlassen (gespendet) werden. Zulässig ist die Embryospende / Embryoadoption nur, wenn ein bereits erzeugter Embryo, der andernfalls absterben würde, übertragen wird. Nach der aktuellen Gesetzeslage ist allerdings das Recht so entstandener Kinder auf Kenntnis ihrer genetischen Abstammung nicht gesichert. Auch die Abgabe und Übernahme der Elternrechte und -pflichten sind nicht hinreichend geregelt.

Mehr zu diesem Thema finden Sie im Kapitel 6.4 Eizellspende in der Stellungnahme.
Gesundheitskarte in Geldbörse mit Geldscheinen

Wie steht es um die Finanzierung?

Gesundheitskarte in Geldbörse mit Geldscheinen

Wie steht es um die Finanzierung?

Der Zugang zur Fortpflanzungsmedizin ist finanziell schlecht gestellten Menschen versperrt, da viele Kosten nicht von den Gesetzlichen Krankenversicherungen übernommen werden.

Die Kosten pro Behandlung liegen oft im vierstelligen Bereich. In der Regel wird aber von den Krankenkassen nur die Hälfte der Kosten übernommen. Die Teilfinanzierung erstreckt sich auch nur auf drei Behandlungszyklen unabhängig von der individuellen medizinischen Situation und den Erfolgsaussichten. Sie ist außerdem an starre Altersgrenzen gebunden. Zudem erhalten nur verheiratete Paare diese finanzielle Unterstützung. Viele Menschen leben heute allerdings in einer festen Partnerschaft, ohne verheiratet zu sein. Durch diese Regelung werden insbesondere Menschen in den neuen Bundesländern benachteiligt, da dort 58% aller Kinder in nichtehelichen Partnerschaften geboren werden.

Finanzierungs­ungerechtigkeiten

Beschränkung auf Ehe

In der Regel werden nur verheiratete Paare finanziell unterstützt. Diese Beschränkung entspricht nicht der gesellschaftlichen Realität: Tendenziell werden in Deutschland immer mehr Kinder in nichtehelichen Partnerschaften geboren.

Nichtehelich geborene Kinder in Deutschland

2014 2000 50% 23% 35%
Altersbeschränkung

Frauen unter 25 und über 40 Jahren sowie Männer unter 25 und über 50 Jahren haben keinen Anspruch auf finanzielle Unterstützung, unabhängig von individuellen medizinischen Diagnosen und Erfolgsaussichten.

Geburtenquote pro Embryonentransfer nach IVF

<=24 30 35 40 >=45 20% 40%
Regionale Ungleichheit

In einigen Bundesländern gibt es Programme zur finanziellen Unterstützung von Kinderwunschbehandlungen, so in Sachsen, Sachsen-Anhalt, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Mecklenburg-Vorpommern, Thüringen, Hessen, Brandenburg und Berlin. Dies führt zu einer regional bedingten Ungleichheit bei der finanziellen Unterstützung von Paaren mit Kinderwunsch.

Karte Deutschland Regionale Ungleichheit

Auch wegen der Finanzierungsmodalitäten werden in Deutschland häufig mehrere Embryonen pro Behandlungszyklus übertragen, um eine höhere Chance auf eine Geburt zu haben. Durch diese Entscheidung erhöht sich allerdings die Wahrscheinlichkeit für eine risikobehaftete Mehrlingsschwangerschaft.

Die genannten Beispiele sind nur einige der drängendsten Probleme, die einer Neuregelung durch den Gesetzgeber bedürfen.

Eine gute psychosoziale Beratung sollte für Paare mit Kinderwunsch niedrigschwellig verfügbar sein. Die Familientherapeutin Petra Thorn erklärt, warum diese so wichtig ist.

Mehr zu diesem Thema finden Sie im Kapitel 8.2 Finanzierung der Kinderwunschbehandlung in der Stellungnahme.
Innenansicht des Deutschen Bundestages

Was sollte getan werden?

Innenansicht des Deutschen Bundestages

Was sollte getan werden?

Eine Vielzahl weiterer Fragen bedarf einer Klärung, beispielsweise:

  • Wie kann der Zugang zu guter psychosozialer Beratung verbessert werden?
  • Wie kann die Datenbasis für Langzeitforschung und Qualitätssicherung verbessert werden?
  • Wie können wir die fortpflanzungsmedizinische Forschung fördern?
  • Wie stellen wir das Recht auf Kenntnis der Abstammung für alle Kinder sicher?
  • Welche Rahmenbedingungen benötigen wir für eine Embryoadoption?
  • Wie gehen wir mit der Leihmutterschaft um?
  • Welche Regelungen in der Präimplantationsdiagnostik müssen verändert werden?
All das macht deutlich, dass ein Fortpflanzungs­medizingesetz dringend notwendig ist.

Wie sollte es weitergehen?

In einer freiheitlichen, pluralen Gesellschaft muss der Gesetzgeber nicht begründen, was er erlauben kann, sondern gut begründen, wenn und warum er etwas verbietet. Daher brauchen wir eine gesellschaftliche und politische Debatte, wie wir mit den Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin umgehen wollen. Dabei müssen wir die Rechte und Interessen aller Betroffenen wahren und im Konfliktfall gegeneinander abwägen.

Woran sollte sich eine Neuregelung der Fortpflanzungsmedizin orientieren? Gibt es eigentlich ein Recht auf ein Kind? Der Jurist Jochen Taupitz und die Medizinethikerin Claudia Wiesemann geben Antworten.

Cover der Stellungname

Um sich ein umfassendes Bild der Thematik zu machen, laden Sie sich die Stellungnahme der Leopoldina und der Akademienunion herunter.

Komplette Stellungnahme